Gilt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer – und seit wann?
Prof. Dr. Michael Fuhlrott:
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gibt es in Deutschland schon einige Jahre. 2018 machte der Europäische Gerichtshof unter Berufung auf die europäische Arbeitszeit-Richtlinie deutlich, dass alle Unternehmen die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten erfassen müssen – und zwar Beginn, Ende und Lage der Arbeitszeit. Das Bundesarbeitsgericht bestätigte dies 2022 und bekräftigte aufgrund der europäischen Vorgaben die Verpflichtung auch für deutsche Unternehmen, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten genau zu erfassen. Ausnahmen gibt es nur für leitende Angestellte.
Gibt es inzwischen ein spezifisches deutsches Gesetz dazu?
Fuhlrott:
Bisher nicht. Es gab in der letzten Legislaturperiode einen Entwurf, der es nicht ins Gesetz geschafft hat. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung steht aber, dass die Sozialpartner einbezogen werden sollen. Ein Gesetz dürfte also kommen, wann genau, ist aber unklar. Der Gesetzgeber muss und wird die europäischen Vorgaben umsetzen müssen, der Druck ist vorhanden. Klar ist auch, dass es ein kontrovers diskutiertes Gesetz werden wird. Wenn man die Aussagen des Koalitionsvertrages deuten möchte, spricht zudem einiges dafür, dass auch die Pflicht kommen wird, die Arbeitszeit elektronisch zu erfassen – aber dies sind bislang nur Mutmaßungen.
Sind denn derzeit alle Beschäftigten verpflichtet, ihre Arbeitszeit zu erfassen?
Fuhlrott:
Ja, das Bundesarbeitsgericht verlangt das. Die europäische Richtlinie lässt theoretisch Ausnahmen und eine nationale Sondergestaltung zu, denkbar wäre dies etwa für Kleinbetriebe oder bestimmte Beschäftigtengruppen. Der deutsche Gesetzgeber hat davon bisher keinen Gebrauch gemacht. Also gilt derzeit die Auslegung der Vorschriften durch das Bundesarbeitsgericht. Und das sagt, dass alle ihre Zeit erfassen müssen. Davon ausnehmen können wird man allenfalls leitende Angestellte, die auch bislang nicht von dieser Richtlinie umfasst wurden.
Wie passt das zu Remote-Arbeit, Homeoffice oder Vertrauensarbeitszeit?
Fuhlrott:
Das mag etwas anachronistisch wirken. Man darf aber nicht vergessen, dass dies „Luxusthemen“ sind, die wir diskutieren – diese betreffen nur bestimmte Beschäftigtengruppen überhaupt. Viele Beschäftigte, gerade im gewerblichen Bereich, erfassen seit Jahrzehnten ihre Arbeitszeit im Wege der klassischen „Stechuhr“ in Form von Zeiterfassungsterminals. In Produktionsanlagen gibt es seit jeher eine Erfassung – dort wird sich nicht viel ändern. Für das Gros der Beschäftigten, die als „Kopfarbeiter“ oder in Büroarbeiten tätig sind, sind hingegen Remote Work und Homeoffice ein Thema.
Aber: Homeoffice oder Vertrauensarbeitszeit ändern nichts an der Pflicht zur Erfassung. Und auch die Höchstarbeitsgrenzen und Pausenzeiten sind zu beachten: Wer von zu Hause arbeitet, darf nicht einfach 20 Stunden am Tag arbeiten.
Das System der Arbeitszeiterfassung macht transparent, wie lange tatsächlich gearbeitet wird, auch wenn es gelegentliche Pausen für private Dinge gibt. Hier ist durchaus Diskussionsbedarf, der sich auch immer wieder in der Medienberichterstattung findet. Etwa, wenn Beschäftigte während der Arbeitszeit zum Friseur gehen – die Arbeitszeiterfassung macht dies eben transparent. Fakt ist aber, dass die Arbeitszeiterfassung Systemen wie der Vertrauensarbeitszeit erst einmal nicht entgegensteht.
Vertrauensarbeitszeit steht der Pflicht zur Erfassung nicht entgegen?
Fuhlrott:
Es kommt dabei darauf an, wie man sie definiert. Vertrauensarbeitszeit als selbstbestimmte Arbeitszeit, bei der man innerhalb eines Tages seine Stunden flexibel verteilt und auch am Abend, nach der Zeit mit der Familie, noch einmal den PC anstellt, ist möglich. Wer aber arbeitet, wie er möchte und gar keine Erfassung vornimmt, verstößt gegen die rechtlichen Vorgaben. Kernurteile zeigen: Ohne Zeiterfassung wird es künftig nicht mehr gehen.
Warum ist das so wichtig?
Fuhlrott:
Der Arbeitsschutz steht nun einmal nicht zur freien Verfügung – weder für den Arbeitgeber noch für den Arbeitnehmer. Arbeitsschutz schützt den Beschäftigten, auch vor oder gegen sich selbst. Selbst wenn jemand freiwillig mehr arbeiten möchte, darf das nicht gesetzlich zulässig sein. Arbeit an Sonn- und Feiertagen oder in zu langen Schichten ist auch mit Zustimmung des Arbeitgebers nun einmal nicht dispositiv und kann nicht erlaubt werden. Wir reden bei der Zeiterfassung über Arbeitsschutz. Das ist bildlich gesprochen das Gleiche wie auf der Baustelle einen Helm zu tragen. Darauf können Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch nicht einverständlich verzichten, wenn sie es nicht für sinnvoll ansehen. Der Arbeitsschutz gilt zwingend.
„Vertrauensarbeitszeit als selbstbestimmte Arbeitszeit ist möglich.“
Wir alle müssen also die Arbeitszeit erfassen. Welche Konsequenzen drohen uns denn bei Nicht-Erfassung?
Fuhlrott:
Zurzeit ist es vor allem eine Compliance-Frage. Die Sanktionen sind in der Tat noch unscharf beziehungsweise zahnlos. Konkrete Bußgelder gibt es noch nicht, solange keine konkrete Anordnung vom Amt für Arbeitsschutz für das konkrete Unternehmen vorliegt. Arbeitgeber riskieren derzeit nur Bußgelder, wenn sie die Arbeitszeitgrenzen überschreiten, also, wenn sie zu lange arbeiten lassen. Aber nicht allein durch fehlende Erfassung - denn dafür gibt es noch kein entsprechendes Gesetz, was aber Grundlage für die Verhängung von Bußgeldern wäre.
Gibt es Vorgaben, wie die Erfassung erfolgen muss?
Fuhlrott:
Wie die Arbeitszeit erfasst wird, liegt völlig im Ermessen des Arbeitgebers: Stechuhr, App oder Excel-Liste, die Beschäftige auf Anweisung des Arbeitgebers selbst führen. Die Vorgaben, die sich aus dem Urteil des europäischen Gerichtshofs ergeben, sind, dass das System objektiv, transparent und verlässlich sein muss. Man kann diskutieren, wie verlässlich die Pflege in Eigenverantwortung durch die Belegschaft ist, aber im Grundsatz sind Arbeitgeber frei, die Erfassung zu handhaben, wie sie möchten. Werden Beschäftigte angewiesen, die Erfassung zu nutzen, und tun sie es nicht, ist das eine arbeitsrechtliche Pflichtverletzung, auf die ein Arbeitgeber mit den üblichen Sanktionen – Ermahnung, Abmahnung, im Extremfall die Kündigung – reagieren kann.
Welche Daten müssen bzw. dürfen erfasst werden? Wie haben Arbeitgeber damit umzugehen, wie lassen sich DSGVO-Verstöße vermeiden?
Fuhlrott:
Es müssen Beginn, Lage und Ende der Arbeitszeit erfasst und gesichert werden. Und die Daten müssen eindeutig dem Beschäftigten zuzuordnen sein. Elektronische Systeme haben Vorteile, da sie Auswertungen ermöglichen und auch die personenbezogenen Daten schützen, um die es sich hierbei handelt. Es gibt durchaus Unternehmen oder Systeme, die die Zeit noch nicht ausreichend oder korrekt erfassen – etwa, wenn das System automatisch eine halbe Stunde Mittagspause abzieht und verbucht. Das ist so nicht korrekt, denn es muss auch genau erfasst werden, wann die Pause liegt und wie lang sie dauert, und dies sind in der Regel mal 25 und mal 32 Minuten.
Welche Risiken entstehen, wenn Beschäftigte regelmäßig länger arbeiten?
Fuhlrott:
Unternehmen riskieren Bußgelder, wenn wiederholt Arbeitszeitgrenzen überschritten werden, denn dies ist durch die Arbeitszeiterfassung ja belegt. Wenn dies kumuliert, mehrere Personen oder mehrere Abteilungen betrifft, kann dies erhebliche finanzielle Strafen zur Folge haben. Auf individueller Ebene können Übermüdung und beispielsweise Unfälle, die überarbeiteten Beschäftigten passieren, sogar strafrechtliche Folgen haben. Deshalb ist es wichtig für Arbeitgeber, die Erfassung auch zu monitoren, Verstöße zu erkennen, zu dokumentieren und zu unterbinden – durch Gespräche oder ggf. Abmahnungen.
„Das Arbeitszeitgesetz an sich ist nicht verschärft worden.“
Steht die Zeiterfassung im Widerspruch zu aktuellen Forderungen nach mehr Flexibilität? Prallt hier ein vor vielen Jahrzehnten erdachtes Instrument auf eine mittlerweile andere Arbeitsrealität?
Fuhlrott:
Dies ist einer der größten Konflikte, wenn man sich das Arbeitszeitrecht ansieht. Das Arbeitszeitgesetz stammt aus einer Zeit, als Arbeit körperlich hart war. Heutzutage ist Arbeit zwar mitunter immer noch körperlich schwer, aber in vielen Berufen drohen mittlerweile andere Risiken. Heute drohen psychische Belastungen durch entgrenzte Arbeit – besonders bei Homeoffice. Die Möglichkeit, zuhause zu arbeiten, erleichtert es, quasi jederzeit den PC anzumachen und nochmal eine Stunde zu arbeiten, das war vor zehn oder 20 Jahren nicht ohne weiteres möglich. Nun ist das Arbeitszeitgesetz an sich nicht verschärft worden, und auch vor 20 Jahren wurde bereits dagegen verstoßen. Dieser Graubereich wird durch die Arbeitszeiterfassung aufgehellt, die Verstöße werden nun sichtbar und belegt – und das steht den Rufen nach mehr Flexibilität entgegen. Wer findet, dies müsse geändert werden, müsste letztlich europäisches Recht ändern, hier gibt es die Vorgaben der Arbeitszeitpausen oder der 11-Stunden-Nachtruhe. Der deutsche Gesetzgeber hat vergleichsweise wenig Spielraum. Nationale Anpassungen sind daher nur im geringen Umfang möglich, eine Option ist die diskutierte Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf 12 Stunden, die sich im Koalitionsvertrag als Gestaltungsidee wiederfindet.
Können Unternehmen flexible Modelle wie Vier-Tage-Woche oder längere Arbeitstage einführen?
Fuhlrott:
Ja, innerhalb gesetzlicher Grenzen. Wir haben auch Mandanten bereits zur Einführung der Viertage-Woche beraten, nicht im Sinne einer Reduzierung der Arbeitszeit bei gleichbleibenden Lohn, sondern im Sinne einer Umstellung der Arbeitstage - was sich etwa bei Handelsunternehmen anbietet, die auf die Anwesenheit von Personal angewiesen sind. Beispielsweise sind vier Tage mit zehn Stunden sind möglich, solange keine Höchstgrenzen überschritten werden. Sollten wir die im Koalitionsvertrag geplanten 12-Stunden-Tage erhalten, könnte man auch 36 Stunden an drei Tagen arbeiten. Ob Beschäftigte das wollen, ist eine andere Frage.
Welche wichtigen Aspekte der Arbeitszeiterfassung gehen in der öffentlichen Debatte bislang unter?
Fuhlrott:
In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Arbeitsschutz schützt vor Überarbeitung, auch wenn Beschäftigte das manchmal anders sehen mögen und die eigene Leistungsfähigkeit anders beurteilen. Ich denke da gerne selbst an meine ersten Jahre im Beruf zurück, in denen man es als normal oder sogar als Zeichen von Stärke empfand, dauerhaft mehr als zwölf Stunden am Tag zu arbeiten. Gleichzeitig muss Deutschland – und auch die europäische Union – ein attraktiver Standort für Unternehmen bleiben.
Die Frage, die sich mir stellt, ist: Schaffen wir es, beim Thema Arbeitszeit-Souveränität Normen und Spielräume so zu nutzen, dass gesunde Arbeit möglich ist, aber zugleich die notwendige Flexibilität, die Unternehmen zwingend brauchen, um im Wettbewerb zu bestehen, zu erhalten? Hier muss man einen guten Kompromiss finden, der Unternehmen nützt und von Arbeitnehmern akzeptiert wird. Viele Beschäftigte wollen beispielsweise abends noch kurz arbeiten, nachdem sie Zeit mit der Familie hatten – das ist ein legitimes Anliegen, das sich noch besser mit den arbeitsrechtlichen Vorgaben vereinbaren ließe.
Über Prof. Dr. Michael Fuhlrott:
Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist einer der renommiertesten Arbeitsrechtsexperten Deutschlands. Der Fachanwalt für Arbeitsrecht unterhält gemeinsam mit drei Partnern die Kanzlei Fuhlrott Arbeitsrecht, die Standorte in Hamburg, Frankfurt und München hat.
Prof. Dr. Fuhlrott ist zudem als Fachautor sowie als Medien-Experte für Arbeitsrecht tätig, arbeitet an verschiedenen staatlichen und privaten Hochschulen als Dozent und tritt als Speaker auf Tagungen, Messen oder bei Fortbildungen auf.
Interview: Julia Engel
Hinweis: In diesem Text wird die männliche Form für personenbezogene Hauptwörter benutzt (z.B. „der Arbeitgeber“, „der Mitarbeiter“, „der Arbeitnehmer"). Dies dient allein dem Lesefluss, es sind alle Geschlechter gemeint.